Visuell evozierte Potenziale (VEP)
Die zuvor beschriebenen Methoden (Ganzfeld-Elektroretinogramm (ERG), multifokale Elektroretinogramm (mfERG), Elektrookulogramm (EOG) und Muster-ERG (PERG) erlauben die genaue Untersuchung aller Schichten der Netzhaut. In der inneren Schicht der Netzhaut liegen die Ganglienzellen, deren Zellfortsätze (Axone) den Sehnerven und damit die Verbindung zum Gehirn bilden. Im Gehirn wird die Sehinformation über weitere Nervenzellen vom Corpus geniculatum (erste Schaltstelle der Sehbahn im Gehirn) bis zur Sehrinde im Großhirn weitergeleitet. Die Sehrinde liegt im Gehirn genau entgegengesetzt den Augen direkt unter dem Knochen des Hinterkopfes. Mit der Messung der visuell evozierten Potenziale (VEP) ist es möglich, die Funktion der Sehbahn vom Auge bis zur Sehrinde zu untersuchen.
Das VEP ist eigentlich eine spezielle Form der Messung von Hirnströmen, wie sie auch beim Elektroenzephalogramm (EEG) stattfinden. Das VEP beschränkt sich aber auf die Messung von Hirnströmen der Sehrinde bei gleichzeitiger gezielter Reizung der Augen. Da die Informationen beider Augen in derselben Sehrinde ankommen, müssen bei Ableitung des VEPs beide Augen getrennt untersucht werden. Als Reize für das Auge können Helligkeitsreize (Lichtblitze) oder Musterreize verwendet werden. Außer in besonderen Fällen wird beim VEP wie beim Muster-ERG ein Schachbrettmuster aus schwarzen und weißen Feldern verwendet, das auf einem Computermonitor dargeboten wird. Dieses Muster wechselt so, dass zeitgleich die schwarzen Felder weiß werden und umgekehrt. Dabei bleibt das Licht vom Monitor immer gleich hell, da gleich viel Fläche entweder weiß oder schwarz bleibt. Daher ist die Helligkeit für die Auslösung der Reizantworten nicht von Bedeutung, sondern nur der Musterwechsel.
Damit dass Muster gut erkannt werden kann, muss die Messung des VEPs mit normalen, nicht weitgetropften Pupillen und falls erforderlich unter Verwendung einer optimalen Brillenkorrektur erfolgen. Elektroden werden an der Stirn und über der Sehrinde am Hinterkopf angelegt. Der Untersuchte muss auf einen Punkt in der Mitte des Musterfeldes fixieren. Da die normale Gehirnaktivität während der Messung stört, ist auch beim VEP eine Mittelung der abgeleiteten Reizantworten erforderlich. Dazu werden ca. 100 Messungen hintereinander abgeleitet, die dann vom Computer miteinander verrechnet werden. So werden die Störungen unterdrückt und die Reizantworten von der Sehrinde herausgefiltert. Es werden mehrere Mustergrößen (meist 2-3) während der Untersuchung verwendet. Für jedes Muster erhält man eine Reizkurve, deren wichtigstes Kennzeichen eine positive Welle nach ca. 100 ms ist (P100-Komponente). Bei Erkrankungen kann die Zeitdauer des Auftretens (Latenz) dieser P100-Komponente verzögert sein, die Höhe (Amplitude) vermindert sein oder die Reizantwort fehlt ganz. Die Untersuchung dauert mit Vorbereitung ca. 20 Minuten.
Voraussetzung für die Ableitung eines VEPs ist die Erkennung des Musters. Wenn die Sehschärfe sehr schlecht ist (z.B. fehlende Brille, Schwachsichtigkeit) oder die klaren Gewebe des Auges (Hornhaut, Linse, Glaskörper) getrübt sind, kann das VEP nicht beurteilt werden. Da der Musterreiz wegen der notwendigen hohen Auflösung nur in der Makula erkannt werden kann, wird mit dem VEP auch die Funktion der Makula gemessen. Erkrankungen, die die Makula betreffen, können daher Veränderungen im VEP zeigen. Aber auch alle Schädigungen des Sehnerven und der gesamten Sehbahn im Gehirn können Veränderungen im VEP zeigen. Bei vererbbaren Erkrankungen ist dies wichtig für die Optikusatrophien, andere Einsatzmöglichkeiten sind die Früherkennung von Nebenwirkungen von Medikamenten oder die Therapiekontrolle bei Tumoren des Gehirns. Wenn im VEP eine Schädigung der Sehbahn angezeigt wird, kann man nicht sicher erkennen, wo diese in der Sehbahn liegt. So ist bei vererbbaren Erkrankungen, die frühzeitig die Makula betreffen, wie alle Makuladystrophien oder die Zapfen-Stäbchendystrophien, oft auch das VEP frühzeitig verändert. Um insbesondere in Frühstadien einer Sehverschlechterung die richtige Diagnose zu stellen, ist es oft sinnvoll, zunächst ein VEP abzuleiten und dann ein mfERG oder PERG zu messen. Mit dem VEP sieht man, ob eine Schädigung der gesamten Sehbahn vorliegt, mit dem mfERG oder PERG kann man entscheiden, ob die Makula der Ort der Schädigung ist.